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Des Erinnerns wert - Maria Weigle (1893-1979) – Eine Meisterin in der Kunst der Mäeutik

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Die ausgebildete Pädagogin und Theologin ent­wickelte eine wahre Leidenschaft in der Vermittlung eines Zugangs zur Bibel für und mit Frauen. Im hohen Alter zog sie rückschauend auf ihr Leben in Dank­barkeit Bilanz, als sie in einem Interview sagte: „Daß ich durch die mancherlei Fragen und besonderen Nöte der zwanziger und dreißiger Jahre dazu genö­tigt wurde, biblische Texte in den verschiedenen Kreisen von Frauen zu erarbeiten und zu besprechen, ist ein Reichtum und das große Geschenk meines Lebens geworden. Nie kann ich dafür dankbar genug sein.“ Sie schließt mit den Worten: „Ich habe den unerschöpflichen Reichtum des biblischen Wortes erfahren und kann nur wünschen und bitten, daß die Gabe weitergeht und immer neu ihre Fülle öffnet.“

Geboren wurde Maria Weigle in Gruiten im Rheinland in einer von pietistischer Jesusfrömmigkeit geprägten Familie. Schon ihr Vater, der dort und später in Essen als Pfarrer tätig war und dem sie in jungen Jahren bei der Gemeindearbeit zur Hand ging, galt als Pionier einer neuartigen kirchlichen Jugendarbeit, die nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten bei Verkündigung und Evangelisation suchte. 1906 erkrankte Maria schwer und musste die Schulzeit beenden. Erst zehn Jahre später entschloss sich die inzwischen 23-Jährige, das Abitur nachzuholen und ein Studium zu beginnen. Sie wählte Deutsch, Geschichte und Theologie und beabsichtigte wohl in den Schuldienst zu gehen. Doch während des Studiums kristallisierte sich mehr und mehr ihr Interesse an Theologie heraus, sodass sie sich 1924 dem ersten theologischen Staatsexamen unterzog, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass es für Frauen keine berufliche Perspektive in der Kirche gab. Schon ein Jahr zuvor hatte sie daher das Lehre­rinnenexamen abgelegt und bald darauf eine Stelle an einer Mädchenschule angetreten. Nebenher enga­gierte sie sich ehrenamtlich in der Seelsorge im Frauengefängnis und in der Arbeit im Evangelischen Verband der weiblichen Jugend.

Nicht aus den Augen verlor sie neben jenen Aktivi­täten das zweite theologische Staatsexamen, das sie dann 1929 erfolgreich absolvierte und im nächsten Jahr in Potsdam als Vikarin ordiniert wurde. Seit 1926 war sie dort im Reichsverband der Evangelischen Frauenhilfe tätig, zunächst als Referentin im Reise­dienst, ab 1936 war sie Leiterin der auch von ihr mit­initiierten Bibelschule. Ihre Lebensmaxime lautete seitdem: Das Lesen der Heiligen Schrift lernen und lehren. In einer Broschüre der Frauenhilfe hieß es: Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments solle wieder Lebensbuch im Werktag der Gemeinde und ihrer Familien werden. Schon seit vielen Jahren hatte Maria Weigle - und nicht nur sie - bemerkt, dass „die Verbundenheit mit Gottes Wort nicht ausreichte. Das wurde an vielen Punkten unseres persönlichen und Frauenhilfslebens spürbar. Starke geistige Bewegungen gingen immer stärker durch unser Volk und damit auch durch unser Leben, die uns unser Christsein, die Kirche und alles, was sie uns brachte, in Frage stellen wollten. Wir erlebten die fortschreitende Propaganda der Gottlosenbewegung, wir erlebten den Einbruch vieler nichtchristlicher Sekten; Anthroposophie und ähnliches machten uns zu schaffen; die Kinder kamen mit Fragen, von Menschen unserer Umgebung in Freundes- und Nachbarschaft wurden wir wegen unseres Christenglaubens zur Rede gestellt -, und wir mußten dabei erleben, daß das Antworten auf die uns gestellten Fragen viel schwerer war, als wir ge­glaubt hatten; wir mußten entdecken, daß uns nun selbst vieles, was uns vorher gewiß schien, unsicher wurde und daß uns die Bibel eigentlich ein fremdes und verschlossenes Buch war. Sie wollte nicht zu uns reden, wenn wir sie aufschlugen; ... - und das nicht nur im Alten, nein, auch im Neuen Testament. Wir hielten uns dann wohl an die alten uns so lieben Sprüche. Die uns oft Trost und Hilfe gewesen waren, wir hielten fest an Predigt und Bibelstunde, aber die Not des eigenen Bibellesens, des eigenen Beant­wortens der schweren Fragen, die uns bedrängten, die blieb zurück.“

Was vor dem Ersten Weltkrieg Konsens in der bürgerlichen Gesellschaft gewesen war, gab es nicht mehr. Die Sozialdemokraten hatten die Kirche mehr­heitlich verlassen und die Arbeiter hatten sich abge­wandt, wurden von den kirchlichen Institutionen nicht oder nur selten erreicht.

Dieser Befund führte Maria Weigle dazu, neue Wege zu gehen, die allerdings gar nicht so neu waren, wenn man beispielsweise auf die im DEF seit seinem Bestehen praktizierten Methoden schaut. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass der DEF seit seiner Gründung eine eigene Struktur hatte und nur Frauen ihm vorstanden, was in der Kirche stets be­fremdete, und ferner an die Schulungsangebote bei­spielsweise in seinen von vielen anderen Verbänden bewunderten und hier und da wohl auch beneideten Vorstandskursen. Über sie schrieb eine frühe Teilnehmerin, sie seien „allen, die sie miterlebt haben, unvergeßlich. Es wurden sachliche Kenntnisse ver­mittelt; daneben übten sich die Teilnehmerinnen in eigenen Referaten, besonders auch in Diskussionen. Wie wusste Paula Mueller die Anfänger zu ermutigen, durch Scherz und Ernst sicherer zu machen, heikle Situationen mit geschickter Hand zu meistern, falsche, unüberlegte Urteile zurechtzurücken! Sie wusste die Menschen so zu überzeugen, dass oftmals aus anfänglichen Gegnern begeisterte treue Freunde wurden.“ 

Da viele der frühen Theologinnen untereinander Kontakt hatten, kannte Maria Weigle die Arbeitsweise des DEF unter Umständen vom Hörensagen. Jeden­falls entwickelte sie eine Methodik, die wegführte von dem reinen Zuhören und hinführte zur durch Mitarbeit fruchtbaren Erschließung der Texte unter besonderer Berücksichtigung der Sicht auf die Frauen­gestalten der Bibel im Alten und im Neuen Testa­ment. Hier schlägt sich ihr Studium bei Adolf Schlatter nieder, der noch nicht ahnen konnte, wie gefährlich das in der Zeit des Nationalsozialismus sein würde.

Zu der von ihr erarbeiteten Methode (der Mäeutik = durch geschicktes Fragen die im Partner schlummern­den, ihm aber unbewussten, richtigen Antworten und Erkenntnisse herauszuholen; auch sokratische Methode genannt) schrieb Maria Weigle: „Man lernt die hohe Kunst des Fragens nicht als schulmeister­liche oder rhetorische Angelegenheit, sondern als Ausdruck eines echten Anliegens, als ehrliche Auffor­derung zur Mitarbeit und zum Mitdenken. Man lernt, es so zu tun, daß man wirklich Antwort will und nicht nur Echo.“ Ihr selbst kam natürlich hier auch ihre Ausbildung als Pädagogin entgegen, aber es war gewiss auch ihr natürliches Interesse am Menschen und ihr Wunsch, das Beglückende, was sie selbst aus dem Bibelstudium gewann, weiterzugeben. 1958 - aus Anlass ihres 65. Geburtstags - erhielt sie u.a. hier­für den theologischen Ehrendoktor der Universität Münster.

Sie galt als ernste, strenge Persönlichkeit, doch freundlich und offen, vor allem konnte sie wohl Vertrauen vermitteln und war eine gute Zuhörerin. Dass sie von 1939 bis 1951 Vorsitzende des Ver­bandes Evangelischer Theologinnen war, spricht für ihre Wertschätzung bei den Kolleginnen. Und es war eine gute Entscheidung, da sie sich aus politischen Diskussionen heraushielt. Es ging ihr auch nicht um eine Gleichstellung mit den männlichen Kollegen. Diese Position war nicht ganz einfach für die Kolle­ginnen, die durchaus die volle Anerkennung innerhalb der Kirche anstrebten. Viele verstanden es nicht, dass sie die damals in Potsdam ihr offenste­hende Sakramentsausübung bei ihrem Wechsel 1945 nach Bayern aufgab. So schrieb etwa Marie Winnecke, seit 1935 Leiterin des Christlich-Sozialen Seminars des DEF, ihr zum 70. Geburtstag: „Manchen von den Jüngeren erschienst Du vielleicht hie und da zu nachgiebig, wenn es darum ging, auf unserem Berufsweg weiterzukommen.“

Marie Winnecke war zwar fünf Lebensjahre jünger, aber hatte schon 1921 als dritte deutsche Theologin das erste und bald darauf das zweite Examen mit Auszeichnung abgelegt, somit um etliche Jahre vor Maria Weigle. Im März 1945 wurde Marie Winnecke ordiniert, da sie während des Krieges die Vertretung des eingezogenen Pfarrers in einer Gemeinde in Nieder­sachsen übernommen hatte. Eine ihrer ehemaligen Schülerinnen, Gertrud Kappeller, schrieb 1985 in ihrem Nachruf: „Sie hatte die besondere Fähigkeit, ihren Schülerinnen selbständiges theologisches Den­ken zu vermitteln und sie in die Lage zu versetzen, die zentralen Aussagen biblischer Texte zu erfassen und entsprechend weiterzugeben. … Ihre Bibelarbeiten zeichneten sich durch große Klarheit und Sachlichkeit aus. Gerade dadurch erschlossen sich oft biblische Texte neu und lösten persönliche Betroffenheit aus.“ Die beiden frühen Theologinnen prägten in der Bibel­schule in Stein und im Christlich-Sozialen Seminar in Hannover mit ihren modernen Methoden viele Schülerinnen, die sie dann über Jahre in die Gemeinde­arbeit hineintrugen und wo man sie bis heute aufspüren kann.

Halgard Kuhn

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Maria Weigle; Quelle: Briefe an Maria Weigle, Nürnberg 1953, Cover; Bestand AddF, Kassel
"Marie" = Maria Winnecke; Quelle: AddF, Kassel, Sign.: D-F1-00034, Ausschnitt