Unser Monatstext entstammt dem dritten Buch der fünf Bücher Mose, dem Buch Levitikus. Rabbiner Bernard J. Bamberger schreibt zu Beginn seiner Einführung „Torath haKohanim, Levitikus“, dass jahrhundertelang jüdische Kinder ihr Bibelstudium mit diesem Buch begannen. Doch auch Erwachsene haben dieses Werk, das wir aus christlicher Sicht als eine moraltheologische Anweisung zum religiösen Leben des Volkes Israel verstehen, studiert und immer wieder kommentiert. Die rabbinischen Kommentare zu Levitikus sind die längsten und ausführlichsten unter ihnen. Sie sind als „Midraschim“ bekannt. Midraschim ziehen aus dem Bibeltext oft Schlüsse, die weit über seinen offenkundigen Sinn hinausgehen, denn das Wort Midrasch bedeutet „Suche“, „Interpretation“.
Auch wir suchen nach dem Sinn und erinnern uns sofort an den uns geläufigen Wortlaut der 10 Gebote, zumal bereits in Lev. 19,3 die Ehrfurcht vor den Eltern eine herausragende Stelle einnimmt. Unser Text hebt jedoch die Bedeutung des Alters an sich heraus, die Ehrfurcht vor jedem älteren Menschen, ohne Ansehen der Person und des Verwandtschaftsgrades. Die Einheitsübersetzung drückt es noch drastischer aus. Sie spricht vom „Ansehen eines Greises“, sodass wir uns heute kaum noch gemeint fühlen.
Die Mutter meiner Freundin flüsterte mir bei jedem passenden Anlass vertrauensvoll zu: „In einen Seniorenkreis gehe ich noch nicht, da sind ja nur alte Leute“. Sie fühlte sich mit ihren fast 93 Jahren noch zu jung für die Gesprächsthemen Krankheit, Einsamkeit und Hinfälligkeit. Umstände, die wir gewöhnlich mit einem greisenhaften Alter verbinden; denn sie hatte ein fröhliches, offenes Wesen, hatte Gottvertrauen, war den Menschen zugetan und ging bis kurz vor ihrem Tod regelmäßig zum Friseur, um sich die grauen Haare färben zu lassen. Sie fühlte sich noch im Leben stehend, denn sie nahm Anteil am Geschehen ihrer Umwelt, der Familie und dem Freundeskreis. Und bis zu ihrem Tod wurde sie gerne gesehen, war sie geschätzt und geehrt, unabhängig vom Aussehen und der Haarfarbe.
Das „graue Haupt“ im Text ist also nur ein Synonym für „das Alter“. Doch gibt es heute grundsätzlich noch „das Alter“ oder „die Alten“?
„Das Alter ehren?“ Das ist sicher löblich, aber welches Alter ist denn generell gemeint? Es gibt die jungen Alten, die Hochaltrigen, die rüstigen Alten, aber auch die vom Leben Gezeichneten und Müden und die „Immer schon Alten“ sowie Menschen, die stets behaupten, man sei so jung, wie man sich fühle, und dies auch leben.
Wie fühlt sich frau mit über 50, 60, 70, 80…? „Endlich ist der Jugendwahn vorbei“ betonen meine Freundinnen und kleiden sich mit individuellem Geschmack. Mal ist die Kleidung schlicht in Farben der Toskana, mal bunt und auffallend, denn sie ist Ausdruck ihrer unterschiedlichen Persönlichkeit. Für die einen Menschen steht Weiß gleichbedeutend für ein Zeichen der Trauer, für die meisten Menschen ist es traditionell die Farbe Schwarz - für eine 14-Jährige dagegen kann Schwarz die Farbe aller Farben sein. Wo wir als Einzelne aktuell auf der Lebensleiste stehend gesehen werden, hängt vom Standpunkt, den Lebensumständen und dem Alter der Betrachtenden ab, denn Jugend und Alter sind nur gleichberechtigte Phasen im Verlauf eines Menschenlebens.
„…und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der HERR.“
Unser Text soll Mahnung sein, Ehrfurcht und Ehrerbietung jedem Menschen entgegenzubringen, seine individuelle „Lebensleistung“ anzuerkennen und wertzuschätzen. Jeder Mensch ist als sein Ebenbild geschaffen, und so fordert der Text mit der göttlichen Autorität seines Wortes: Erheben wir uns vor den alten Menschen in Ehrfurcht!
Hören wir ihnen zu, räumen wir ihnen Zeit in unserem Leben ein, denn sie können uns als Abbild Gottes ihre Weisheit, ihre Erfahrungen und ihre Zeit schenken.
Sie sind uns schon ein Stück auf dem Lebensweg voraus.
Dietlinde Kunad, Bundesvorsitzende